Das aktuelle Wortstudio

  • Beim Hören dieses Songs im Musikthread ist mir ein grammatikalischer Fehler aufgestoßen.


    Der Imperativ 1. Person Singular von "sehen" lautet "sieh!" und nicht "seh!".


    Gerade Hip-Hopper haben ja in der Regel ein sehr feines Sprachgefühl und deshalb hat mich das sehr gewundert. Deshalb frage ich mich, ob das ein künstlerisches Stilmittel ist, um damit etwas auszudrücken. Oder ob das eine grammatikalische Anomalie der bayrischen Mundart ist, die es dort häufig gibt. Die Band Blumentopf kommt nämlich aus Freising.


    1 | Bei Verben unterscheiden wir die Einheitenkategorien

    Person [1., 2. und 3. Person]

    Numerus [Einzahl oder Mehrzahl]

    Tempus [mehrere Zeitformen]

    Genus verbi [aktiv oder passiv]

    Modus [Indikativ, Konjunktiv und Imperativ]


    2 | Die Veränderung von Wörtern nach verschiedenen Kategorien geschieht durch Flexion. Verben können nach den Kategorien der obigen Liste flektiert werden. Diese Art der Flexion ist die Konjugation.


    3 | Den Imperativ gibt es nach herrschender Meinung nur in der 2. grammatischen Person. Die Pluralform wirft keine Fragen auf – sie ist identisch mit der 2. Person Plural Indikativ Präsens:

    ihr seht => seht! | ihr legt => legt! | ihr segelt => segelt!


    4 | Wir suchen im Weiteren aber nach der Einzahl, also nach dieser Flexion:

    Imperativ 2. Person Einzahl.


    Haben wir es mit einem starken Verb und mit einer Vokalhebung im Präsens zu tun wie bei ...

    LE•sen | SE•hen | WER•fen,

    ... wird auch die uns interessierende Befehlsform

    1. mit angehobenem Vokal gebildet und ist

    2. endungslos.


    5 | Somit lauten die Aufforderungen standardsprachlich korrekt:

    Lies! | Sieh! | Wirf!


    6 | Warum hören wir dann gelegentlich die Formen mit Vokalwechsel von ›i‹ zu ›e‹:

    Ess(e)! | Les(e)! | Seh(e)! | Werf(e)!


    Eine weithin akzeptierte Erklärung von Sprachwissenschaftlern lautet: Der Vokalwechsel (hier von ›i‹ zu ›e‹) deutet einen von der Sprachgemeinschaft mit der Zeit herbeigeführten Wechsel vom starken zum schwachen Verb an.


    7 | Noch heißt es also korrekt:

    du isst | du liest | du siehst | du wirfst


    Wenn in der gesprochenen Sprache der zunehmend zu hörende Imperativ also tatsächlich auf Bevorstehendes hinweisen sollte, dann hätten wir uns in ferner Zeit zu gewöhnen an:

    er aß => er esste | sie las => sie leste | er sah => er sehte | sie warf => sie werfte


    Diese Änderungen wirken absurd, und sie sind (noch) erkennbar falsch. Wenn es sie einst dennoch geben sollte, wären sie dann jedoch nicht von oben angeordnet (wie die neuen Gender-Varianten), sondern von den Verwendern der deutschen Sprache selbst eingeführt worden. Solche Änderungen gab und gibt es zuhauf, wenn wir vergangene mit heutigen Formen vergleichen:

    Ehemals buk der Bäcker das Brot, doch heute häufiger backte er es.


    8 | Die Band Blumentopf hat also mit ›seh! die zunehmend häufiger gesprochene Sprache singend bemüht, so wie wir das hier im Forum auch zuweilen lesen können.

    Les Dir erst mal meinen Beitrag durch‹,


    lautet da manche Erwiderung. Im Schriftlichen ist jedoch noch das standardsprachlich Korrekte dominierend:

    Lies Dir ...‹.


    *****


    Eine wohlwollende Interpretation dieses Phänomens: Die verschriftliche gesprochene Sprache in unserem Forum deutet auf den hier allseits willkommenen informellen Austausch hin, der eben gelegentlich auch die den Beitragsverfassern vertraute mündliche Ausdrucksweise bemüht. Vielleicht sind die Schreiber auch nur der Zeit voraus?



    Hier eine einige Beispiele für korrekte Imperative:

    "Initiation bezeichnet die Einführung eines Außenstehenden [...] in eine Gemeinschaft oder seinen Aufstieg in einen anderen persönlichen Seinszustand ..." | [Quelle: wikipedia, abgerufen am 24.05.2013] Regionalliga West, Saison 1967/68, 15. Spieltag, 12.11.1967 | Fortuna 95 - Westfalia Herne 4:0

  • ›Anstatt‹ verlangt anstatt des Dativs den Genitiv


    Vorweg sei vorbehaltlos jede künstlerische Freiheit bekräftigt. Wenn wir dennoch aus Interesse nach dem standardsprachlichen Korrekten suchen wollen, sei noch ein Blick auf die Präposition ›anstatt‹ geworfen: Sie erfordert ebenso wie ›anstelle‹ oder ›statt‹ den Genitiv.


    Kleine Merkregel: Es heißt nicht ›stattdem‹, sondern nach ›stattdessen‹. Das Objekt wird also nicht erfragt mit ›wem?‹ oder ›wen?‹, auch nicht mit ›wer?‹, sondern mit ›wessen‹. Folglich lautet der Genitiv der Personalpronomen ›meiner, deiner, seiner/ihrer, unser, euer, ihrer/Ihrer‹.


    Nun wird der Genitiv in der Alltagssprache zunehmend seltener genutzt und in aktuellen Liedtexten – nicht nur um des Reimes willen – gerne gemieden. Standardsprachlich jedoch haben Jupiter Jones hier einen (verzeihlichen) Fehlgriff getan, der aufmerksamen Hörern wie @dosti63 zu Recht aufgefallen ist.

    "Initiation bezeichnet die Einführung eines Außenstehenden [...] in eine Gemeinschaft oder seinen Aufstieg in einen anderen persönlichen Seinszustand ..." | [Quelle: wikipedia, abgerufen am 24.05.2013] Regionalliga West, Saison 1967/68, 15. Spieltag, 12.11.1967 | Fortuna 95 - Westfalia Herne 4:0

  • Vielen Dank für die Aufklärung. Ich bin sonst ein Fan des Genitivs und versuche ihn auch immer da anzuwenden, wo sich heimlich bei vielen schon der Dativ eingeschlichen hat.


    Aber in diesem konkreten Fall hatte ich intuitiv zwar auch zuerst "anstatt wessen" gefragt, aber das hat sich irgendwie falsch angehört. Und mit einer Behelfsregel, dass der Genetiv den Besitz anzeigt und ich hier keine Besitzverhältnisse identifizieren konnte, habe ich dann den Genitiv verworfen.


    Ich nehme an, der Genetiv nach "anstatt" ist einer der seltenen Fälle, wo der Genitiv keinen Besitz anzeigt?

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  • Vielen Dank für die Aufklärung. Ich bin sonst ein Fan des Genitiv und versuche ihn auch immer da anzuwenden, wo sich heimlich bei vielen schon der Dativ eingeschlichen hat.


    Aber in diesem konkreten Fall hatte ich intuitiv zwar auch zuerst "anstatt wessen" gefragt, aber das hat sich irgendwie falsch angehört. Und mit einer Behelfsregel, dass der Genitiv den Besitz anzeigt und ich hier keine Besitzverhältnisse identifizieren konnte, habe ich dann den Genitiv verworfen.


    Ich nehme an, der Genitiv nach "anstatt" ist einer der seltenen Fälle, wo der Genitiv keinen Besitz anzeigt?


    Diese Behelfsregel hilft auch in den meisten Fällen. Es sind die Fälle, in denen der Genitiv den Besitzer von etwas anzeigt [Genitivus possessoris] => das Haus deines Nachbarn.


    In Abgrenzung dazu gibt es noch den Genitiv, der eine Eigenschaft bezeichnet [Genitivus qualitatis] => ein Mann dieses Alters


    Aus dem Lateinunterricht mögen noch bekannt sein

    • der Genitiv, der den Urheber einer Handlung bezeichnet [Genitivus subjectivus] => die Liebe der Mutter

    • der Genitiv, der das Objekt bezeichnet [Genitivus objectivus], in der Übersetzung jedoch als solcher nicht erkennbar ist => die Furcht vor den Römern

    • der Genitiv, der den Teil einer Gesamtheit bezeichnet [Genitivus partitivus]. Im Deutschen wird hierfür in der Regel der Nominativ verwendet => eine Menge Getreide – doch klingt zB ›eine Menge Geldes‹ recht angenehm.


    Die Aufzählung soll untermauern, dass nicht allein die Frage nach dem Besitz zum Genitiv führen muss. Neben dem präpositional verwendeten ›anstatt‹ gibt es eine Reihe weiterer Präpositionen, die ebenfalls den Genitiv regieren:


    abseits, abzüglich, angesichts, anbetracht, anhand, anlässlich, anstelle, aufgrund/auf Grund, ausgangs, ausschließlich, außerhalb, behufs [na, wie klingt das?], beiderseits, betreffs, bezüglich, binnen, diesseits, eingangs, eingedenk, einschließlich, fern, fernab, halber, hinsichtlich, infolge, inklusive, inmitten, innerhalb, jenseits, kraft, längs, längsseits, links, mangels, mittels, ob [!], oberhalb, rechts, seitens, seitlich, seitwärts, um - willen, unbeschadet, unfern, ungeachtet, unterhalb, unweit, vermittels, vermöge, von - wegen, vorbehaltlich, zeit, zugunsten, zuzüglich, zwecks.


    In der gesprochenen Sprache hören wir gelegentlich auch den Dativ nach statt, trotz, während, wegen; zuweilen auch mal nach binnen, einschließlich, fern, längs, mittels, zuzüglich.


    *****


    Die allmähliche Ersetzung des Genitivs durch den Dativ nehme ich bedauernd zur Kenntnis, denn ebenso wie Du, geschätzter @Wackhino, bin ich »ein Fan des Genitivs«.

    "Initiation bezeichnet die Einführung eines Außenstehenden [...] in eine Gemeinschaft oder seinen Aufstieg in einen anderen persönlichen Seinszustand ..." | [Quelle: wikipedia, abgerufen am 24.05.2013] Regionalliga West, Saison 1967/68, 15. Spieltag, 12.11.1967 | Fortuna 95 - Westfalia Herne 4:0

    Dieser Beitrag wurde bereits 1 Mal editiert, zuletzt von Egon18Geye95Allofs ()

  • Aus meiner Sicht ist "dir" korrekt. Ich wende in solchen Fällen heute noch die in der Grundschule erlernte Fragetechnik an, um den richtigen Kasus zu bestimmen.


    "Anstatt wem wohnte die Stille bei uns?"


    "Wem oder was" steht für den Dativ.

    Nicht "wem oder was" - einfach nur "wem".

    Vielen Dank für die Aufklärung. Ich bin sonst ein Fan des Genitivs und versuche ihn auch immer da anzuwenden, wo sich heimlich bei vielen schon der Dativ eingeschlichen hat.


    Aber in diesem konkreten Fall hatte ich intuitiv zwar auch zuerst "anstatt wessen" gefragt, aber das hat sich irgendwie falsch angehört. Und mit einer Behelfsregel, dass der Genetiv den Besitz anzeigt und ich hier keine Besitzverhältnisse identifizieren konnte, habe ich dann den Genitiv verworfen.


    Ich nehme an, der Genetiv nach "anstatt" ist einer der seltenen Fälle, wo der Genitiv keinen Besitz anzeigt?

    Genetiv und Genitiv - hier geht beides. ;-)

    Brothers, Sisters

    One Day we will be free.

    From Fighting, Violence, People Crying in the Streets.

  • Beitrag von Arthur Friedenreich ()

    Dieser Beitrag wurde vom Autor gelöscht ().
  • Man kann in dem Satz in dem Song von Jupiter Jones "statt" aber doch auch als Konjunktion im Sinne von "und nicht" sehen, insofern wäre auch "du" m.E. richtig.

    "Als Stille bei uns wohnte und nicht du."

    "Als Stille bei uns wohnte anstatt du."


    https://blog.leo.org/2014/02/2…t-der-praeposition-statt/

    https://www.duden.de/sprachwis…atgeber/statt-und-anstatt

    https://www.julianetopka.de/zwei-minuten-archiv/juni-2019

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  • ...und der Gendarm ist zuständig für die Einhaltung des korrekten Gendergebrauchs? Wobei ich mich bei Gen-Darm schon frage, ob man das Gendern, wie bei Hämorrhoiden veröden lassen könnte, respektive das Gendern in die Ödnis schickt, um dorten dem Peffer beim Wachsen zuzusehen.

    ;-)
    Löwenzahn


    "Heute ist die gute alte Zeit von morgen." Karl Valentin

  • Ärztinnen müssen nach Ansicht alter weißer Männer in der Lage sein, sich bei Ärzte mitgemeint zu fühlen.

    Ärzte sind aber nicht in der Lage zu erkennen, dass sie bei Ärzt*innen enthalten sind?

    Ich bin der Ansicht, daß bei diesem Gendern beide Gruppen genannt werden sollten, und nicht eine Gruppe verstümmelt wird. M.E. sollte es dann doch heißen: Ärzte*ìnnen.

  • Gestern bei Anne Will gehört: Ärzt*innen. Was sind denn Ärzt?

    Ärztinnen müssen nach Ansicht alter weißer Männer in der Lage sein, sich bei Ärzte mitgemeint zu fühlen.

    Ärzte sind aber nicht in der Lage zu erkennen, dass sie bei Ärzt*innen enthalten sind?

    Zum Kotzen, diese ständige Verunstaltung der deutschen Sprache.

    Wenn es schon sein muß, dann sollte man wenigstens "Ärztinnen und Ärzte" oder "Schülerinnen und Schüler" aussprechen. Diese Gendersternchen ist sowas von bescheuert, erst recht, wenn man es spricht.

    EINMAL FORTUNA - IMMER FORTUNA !!!!!!



    --,)s

  • Ärztinnen müssen nach Ansicht alter weißer Männer in der Lage sein, sich bei Ärzte mitgemeint zu fühlen.

    Ärzte sind aber nicht in der Lage zu erkennen, dass sie bei Ärzt*innen enthalten sind?

    Ich bin der Ansicht, daß bei diesem Gendern beide Gruppen genannt werden sollten, und nicht eine Gruppe verstümmelt wird. M.E. sollte es dann doch heißen: Ärzte*ìnnen.

    Ärztinnen müssen nach Ansicht alter weißer Männer in der Lage sein, sich bei Ärzte mitgemeint zu fühlen.

    Ärzte sind aber nicht in der Lage zu erkennen, dass sie bei Ärzt*innen enthalten sind?

    Zum Kotzen, diese ständige Verunstaltung der deutschen Sprache.

    Wenn es schon sein muß, dann sollte man wenigstens "Ärztinnen und Ärzte" oder "Schülerinnen und Schüler" aussprechen. Diese Gendersternchen ist sowas von bescheuert, erst recht, wenn man es spricht.

    Ich habe durchaus auch Probleme mit dem Gendersternchen, vor allem, weil Sprache für mich vor allem in literarischen Texten wichtig ist. Deswegen stimme ich zwar eigentlich zu, dass Ärztinnen und Ärzte besser klingen würde, habe aber mittlerweile gelernt, dass das Sternchen eben nicht nur diese beiden Geschlechter, sondern auch noch alle anderen, die sog. diversen miteinbeziehen soll.