Das aktuelle Wortstudio

  • Der Deutsche/die Deutsche/die Deutschen – und eine Betrachtung zum ›Glottisschlag‹


    In einem von einer Kieler Pädagogin geführten ›Genderwörterbuch‹ werden die Umschreibungen ›Person aus Deutschland; deutsche Person; Person mit deutscher Staatsangehörigkeit‹ vorgeschlagen. [https://geschicktgendern.de/] Dies als anekdotisches Antwortbeispiel auf eine weiter oben gestellte Frage.


    Ja, so kann man’s dann auch machen. Doch wer will das? Die weitere Frage: Wer alles beteiligt sich inzwischen an dieser sprachlichen Umerziehung?


    Ein Beispiel: Der Forumskollege @myfreexp, der zu meiner Freude nicht zu den Umerziehern gehört, hatte jüngst den informativen und materialreichen ›sprachlog‹ des Berliner Sprachwissenschaftlers Anatol Stefanowitsch verlinkt. Darin zu stöbern lohnt sich für an der deutschen Sprache Interessierte allemal. [http://www.sprachlog.de/impressum/]


    Anatol Stefanowitsch ist ein viel gefragter Mann, wenn es um den aktuell als politisch korrekt angesehenen Sprachgebrauch geht. Seine inhaltliche Position zum Thema ist ausführlich begründet, und sie ermöglicht es aus meiner Sicht, die Diskussion besser zu verstehen. Dabei wird jedoch häufig übersehen, dass er seine Thesen zwar mit sprachwissenschaftlichen Mitteln beschreibt, damit jedoch ausdrücklich ein moralphilosophisches Ziel verfolgt: die Beseitigung struktureller sprachlicher Ungleichheiten durch die Bekämpfung abwertender Sprache als ersten, aber noch lange nicht hinreichenden Schritt hin zu gesellschaftlicher Gleichwertigkeit aller sozialen Gruppen. [Stefanowitsch, Stefan: Eine Frage der Moral. Warum wir politisch korrekte Sprache brauchen. Dudenverlag 2018]


    Zu diesem Zweck schließt er selbst die nachträgliche Änderung literarischer Werke nicht aus. Er ist also gewillt, ein (auch von mir als lohnenswert angesehenes) gesellschaftspolitisches Ziel mit den Mitteln der Sprachbeeinflussung zu erreichen. Zu seinen Mitteln zählt alles, was auch hier im Aktuellen Wortstudio in den letzten Tagen an kuriosen Hervorbringungen beispielhaft beigesteuert wurde – und noch einiges mehr.


    Genau da setzt die Kritik an, die von jenen Sprachwissenschaftlern erhoben wird, die der deutschen Grammatik verpflichtet sind, wie es besonders von Peter Eisenberg gesagt werden kann. Dieser hat frühere Ausgaben des Grammatik-DUDENs verantwortet und sein im Metzler Verlag veröffentlichter zweibändiger ›Grundriss der Grammatik‹ (›Der Satz‹, ›das Wort‹) erscheint in diesen Tagen in neuer Auflage. Peter Eisenberg geht im Gegensatz zu Anatol Stefanowitsch und anderen Gender-Bewegten nicht in moralphilosophischer Absicht vor, sondern rein sprachwissenschaftlich. So schreibt er zum Beispiel zum neuen sprachlichen Gesslerhut, dem ›Glottisschlag‹, den wir zunehmend von Anne Will und anderen Sprechern (!) hören, welche uns damit bei jeder Verwendung ein Zeichen ihrer ›Aufgeklärtheit‹ und Zeitgeistigkeit geben wollen:


    »Was empfohlen wird, taugt nicht: Der falsche Glottisschlag«


    In Ergänzung zu den in diesem Strang diskutierten ›Ärzten, Ärztinnen oder Ärzt*innen‹ hier noch der dazu passende Absatz aus Peter Eisenbergs gleichem Artikel:


    Persönliche Bemerkung:

    Wer sich also dem Glottisschlag, dem substantivierten Partizip I (die hier› Lesenden‹ und alle ›Zu-Fuß-Gehenden‹) und den weiteren angestrebten sprachlichen Vorgaben zur Vermeidung des generischen Maskulinums verpflichtet fühlt, gleichzeitig vielleicht auch als demonstrativ friedfertiger Mensch noch dem Handlungskonzept der Gewaltfreien Kommunikation (GFK) nach Marshall B. Rosenberg folgen will, der hat dann schon Satz für Satz einiges zu beachten.


    Mir wäre das zu viel. Ich möchte mein alltägliches Dasein nicht in einem 24-stündigen Achtsamkeits-Seminar zubringen müssen.

    "Initiation bezeichnet die Einführung eines Außenstehenden [...] in eine Gemeinschaft oder seinen Aufstieg in einen anderen persönlichen Seinszustand ..." | [Quelle: wikipedia, abgerufen am 24.05.2013] Regionalliga West, Saison 1967/68, 15. Spieltag, 12.11.1967 | Fortuna 95 - Westfalia Herne 4:0

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  • Die weitere Frage: Wer alles beteiligt sich inzwischen an dieser sprachlichen Umerziehung?

    Zählst du jene, die sich in der Verwendung von Gendersternchen o.ä. üben, zu den Umerzieher*innen?

    Ich tue das, ohne aber mit erhobenem Zeigefinger andere zu maßregeln oder regelmäßig aufzufordern dabei mitzumachen. So wie auch ein*e Veganer*in erstmal nicht per se anderen ihr Nackensteak wegnimmt. Es gibt sicher die, welche sich das zur Mission machen, aber das sollte man m.E. nicht verallgemeinern und gleichsetzen.

    Hier nehme ich eher wahr, dass sprachkonservative Bewahrer*innen auf ihrer Mission die dem "Genderwahnsinn" aufgeschlossenen belehren und maßregeln - ohne dass ich dabei Namen nennen will ( Bin ja nicht Captain Obvious. ).


    Mir wäre das zu viel. Ich möchte mein alltägliches Dasein nicht in einem 24-stündigen Achtsamkeits-Seminar zubringen müssen.

    Ist es mir ehrlicherweise auch, um einen Anspruch von Perfektion gegen mich selbst zu erheben.

    Aber ich sehe das wie beim Englisch-, Spanisch-, Französich-, ... Parlieren. Mit Mut zur Lücke und zum Fehler komme ich ganz gut zu Recht und vor allem weiter, als wenn ich es gar nicht versuchte.


    Der Änderung literarischer Werke gegenüber bin ich eher abgeneigt - je klassischer das Werk desto mehr lehne ich das ab. Kulturelle Werke gilt es sowieso in ihrem Kontext zu begreifen. Goethes Werther kann man wie Plenzdorf adaptieren, würde man durch stupide sprachliche Transformation aber m.M.n. zerstören. Die Reflektion des historisch gesellschaftlichen Kontextes wäre anhand eines so transformierten Werkes erheblich erschwert bis verunmöglicht.

  • Der Änderung literarischer Werke gegenüber bin ich eher abgeneigt - je klassischer das Werk desto mehr lehne ich das ab. Kulturelle Werke gilt es sowieso in ihrem Kontext zu begreifen. Goethes Werther kann man wie Plenzdorf adaptieren, würde man durch stupide sprachliche Transformation aber m.M.n. zerstören. Die Reflektion des historisch gesellschaftlichen Kontextes wäre anhand eines so transformierten Werkes erheblich erschwert bis verunmöglicht.

    Ich halte das Gendern in literarischen Texten, bis zum Beweis des Gegenteils, für unmöglich. Auch in zeitgenössischen.

  • Ich halte das Gendern in literarischen Texten, bis zum Beweis des Gegenteils, für unmöglich. Auch in zeitgenössischen.

    Wenn ich mir vorstelle, dass ein frauenhassender Psycho-Killer in einem Thriller plötzlich gendernd wiedergegeben wird. Das wäre vielleicht was für eine Verfilmung durch Bully Herbig.

  • Diejenigen, die diesen Empfehlungen folgen und dafür ihre Gründe haben, zähle ich nicht zu den ›Umerziehern‹ - mit ein bisschen (wohlmeinender) Polemik eher zu den bereits ›Umerzogenen‹. Jedenfalls möge das den Sprechern und Schreibern unbenommen bleiben. Vielmehr habe ich da eher die sehr aktiven Veranlasser all dessen im Blick, wie eben neuerdings den DUDEN, der seine selbst gestellte Aufgabe als nur Beschreibender des deutschen Sprachgebrauchs verlassen hat, und Akteure wie Anatol Stefanowitsch und die unvergessenen Damen Senta Tremel-Pötz und Luise F. Pusch, die in Lann (Anja) Hornscheidt [Professorx statt Professor oder Professorin] eine Nachfolgerin gefunden haben, die es so richtig auf die Spitze treibt.


    Einen gegenderten Goethe-Text mag ich mir gar nicht vorstellen.

    "Initiation bezeichnet die Einführung eines Außenstehenden [...] in eine Gemeinschaft oder seinen Aufstieg in einen anderen persönlichen Seinszustand ..." | [Quelle: wikipedia, abgerufen am 24.05.2013] Regionalliga West, Saison 1967/68, 15. Spieltag, 12.11.1967 | Fortuna 95 - Westfalia Herne 4:0

  • Bleibt die Frage, ob das Gendern wegen möglicher sprachlicher Ästethik verweigert wird, oder wegen misogyner Haltungen von den- bzw. derjenigen. Die krampfhaften Versuche Gendern per se zu verulken, deuten eher auf letzteres hin.


    Folgende Überlegungen aus dem Interview mit Lisa Eckhart sind auch erwähnenswert.

    Sind Sie trotzig und gendern deswegen nicht?

    Nein! Ob ich Österreicherin sage oder Österreicher, ob ich das gender oder nicht, das gebietet die Metrik. Erlaubt mir der Satz die gegenderte Form von der Ästhetik her, oder nicht? Die Worte haben sich dem Rhythmus zu fügen und nicht meiner Identität. Der Sprache und nicht dem Sprecher.

    Wenn es metrisch passt, würden Sie von Künstler:innen sprechen?

    Ja. Man hat vor allem beim Reim diese Momente, wo man künstliche Pausen machen muss. Wenn es da passt, dann sag ich das. Das Binnen-I ist ja ein fantastisches Symbol, eine Abgrenzung wie eine Mauer. Ein sehr amüsantes Phallussymbol. Das ist euer orthografischer Umschnalldildo, der nur weiter weg führt vom Universalismus.

  • Bleibt die Frage, ob das Gendern wegen möglicher sprachlicher Ästethik verweigert wird, oder wegen misogyner Haltungen von den- bzw. derjenigen.

    In dem Zusammenhang wiederum plädiere ich dafür, dass "Ästhetik" künftig mit zwei "h" geschrieben wird, passt ganz gut. Ich hoffe, man kann mir in meinen verästelten Gedankengängen folgen.

    Brothers, Sisters

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  • "Umerziehung" - oftmals ganz böse konnotiert. Obacht!


    An Wortbedeutungen stets interessiert und daraufhin suchend, finde ich dank Deines Einwurfs - für mich überraschend - einen gleichlautenden warnenden Hinweis der

    Brandenburgischen Landeszentrale für politische Bildung: »Der Begriff der „Umerziehung“ wird bis heute in der rechten Szene als Kampfbegriff gegen Andersdenkende verwendet. So spricht etwa die rechtsextreme Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD) von einer „schleichenden Umerziehung“ der Europäischen Union in Bezug auf die Gleichstellung der Geschlechter oder greift Befürworter einer geschlechtergerechten Sprache an. In diesem Zusammenhang ist dann auch oft von „neuer Umerziehung“ die Rede.« [https://www.politische-bildung…rg.de/lexikon/umerziehung]


    Ich hatte ihn anders, von konkreten historischen oder aktuellen politischen Zusammenhängen losgelöst, ungefähr im Sinne der Angabe in DUDENs Großem Wörterbuch der deutschen Sprache, Band 9, verwendet: »umerziehen (unregelmäßiges Verb): zu einer anderen Einstellung, Haltung erziehen« – und dachte, damit sogar das explizite Anliegen der hauptberuflichen Gender-Bewegten getroffen zu haben.


    Alles nicht so einfach. Danke für den Hinweis.

    "Initiation bezeichnet die Einführung eines Außenstehenden [...] in eine Gemeinschaft oder seinen Aufstieg in einen anderen persönlichen Seinszustand ..." | [Quelle: wikipedia, abgerufen am 24.05.2013] Regionalliga West, Saison 1967/68, 15. Spieltag, 12.11.1967 | Fortuna 95 - Westfalia Herne 4:0

  • Gibt da noch so manch anderes (Stichworte NS-Zeit, DDR, China), würde aber jetzt zu weit führen.

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  • Einen gegenderten Goethe-Text mag ich mir gar nicht vorstellen.

    Könnte ich mir als erkennbar eigenständiges künstlerisches Werk durchaus vorstellen.


    Die Worte haben sich dem Rhythmus zu fügen und nicht meiner Identität. Der Sprache und nicht dem Sprecher.

    Sprache hat ja nun mehrere Ebenen. Sprache als Kunstform ist da nur eine und die im Alltag m.M.n. unwesentlichere.

    Primär ist Sprache MIttel der Kommunikation und zu diesem Zweck müssen Worte einem zwischen Sender*in und Empfänger*in vereinbarten Protokoll entsprechend verwendet werden. Somit muss dabei Bedeutung ( und Deutung ) über die Ästetik gehen.

  • Ans Nachdenken gebracht, fiel mir wohl assoziativ die US-amerikanische ›Reeducation‹ ein, die hier nach dem Zweiten Weltkrieg die Überwindung der NS-Ideologie zum Ziel hatte. Erstaunlicherweise findet sich der Begriff ›Umerziehung‹ weder in Cornelia Schmitz-Bernings 710-seitigem Vokabular des Nationalsozialismus [Berlin; New York: de Gruyter, 1998] noch in den zur Hand genommenen Wörterbüchern über die Sprache in der DDR - so zum Beispiel in dem unter diesem Titel veröffentlichten von Birgit Wolf [Berlin; New York; de Gruyter, 2000].


    Kann dieser Begriff mit dem nunmehr hier frisch erworbenen Wissen um dessen historisch-politischen Verwendungs-Situationen noch neutral verwendet werden? Eine spannende Frage, die zu allen Begriffe gestellt werden muss, die von unerwünschten Verwendern in Gebrauch genommen wurden und werden.

    "Initiation bezeichnet die Einführung eines Außenstehenden [...] in eine Gemeinschaft oder seinen Aufstieg in einen anderen persönlichen Seinszustand ..." | [Quelle: wikipedia, abgerufen am 24.05.2013] Regionalliga West, Saison 1967/68, 15. Spieltag, 12.11.1967 | Fortuna 95 - Westfalia Herne 4:0

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  • Das ›um‹ in ›Umerziehung‹ als überflüssiges Präfix wie z. B. beim Ohrenschmerzen auslösenden ›auf-oktroyieren‹ oder ›zurück-erinnern‹? Das käme dann auf die beabsichtigte Bedeutung an.


    In der Zusammensetzung mit Verben wird mit ›um-‹ auch ausgedrückt: etwas von einem Zustand in einen anderen bringen. Im Sinne der oben erwähnten ›Reeducation‹ könnte das am Beispiel vielleicht so gedeutet werden: Große Teile der deutschen Bevölkerung waren von den damals Herrschenden zur Einnahme der mit der NS-Ideologie verbundenen Einstellungen und Haltungen erzogen worden. Dem wurde nach dem Zweiten Weltkrieg mittels der ›Reeducation‹ entgegengewirkt (= es wurde um-erzogen), und es wurde versucht, die Verblendeten in einen anderen Zustand, den mit demokratischer Gesinnung, zu bringen.


    Diese gewollte Veränderungsabsicht, eine Umkehr, sehe ich durch das Präfix ›um-‹ deutlicher ausgedrückt als in der Bezeichnung für den allgemeinen Prozess der ›Erziehung‹.


    Das Obige ist nicht mehr als (m)ein Deutungsangebot.

    "Initiation bezeichnet die Einführung eines Außenstehenden [...] in eine Gemeinschaft oder seinen Aufstieg in einen anderen persönlichen Seinszustand ..." | [Quelle: wikipedia, abgerufen am 24.05.2013] Regionalliga West, Saison 1967/68, 15. Spieltag, 12.11.1967 | Fortuna 95 - Westfalia Herne 4:0

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  • Das Pfäfix hat sicherlich eine verstärkende Wirkung. Es wird etwas deutlicher, dass nicht nur eine Entscheidung zu etwas sondern vor allem von etwas weg angestrebt wird.

    Wirklich sinnstiftend erscheint es mir aber nicht. In der heute oft anzutreffenden populistischen Verwendung wird es genutzt, Verlustängste bei den Adressat*innen auszulösen.

  • Ist ähnlich wie streichen und umstreichen.

    Wenn Du jemanden nicht umfahren möchtest, musst Du ihn umfahren....

    Fatal ist mir das Lumpenpack, Das, um die Herzen zu rühren, Den Patriotismus trägt zur Schau, Mit allen seinen Geschwüren.

    Heinrich Heine. Deutschland, ein Wintermärchen, 1844