»Liebe Freundinnen und Freunde,
am Montag, 8. Januar 2024, wird sich die neu gegründete Partei ›BSW – für Vernunft und Gerechtigkeit‹ vorstellen. An der Pressekonferenz werde auch ich teilnehmen, da ich gemeinsam mit Fabio di Masi die BSW-Liste für die Europawahl am 9. Juni 2024 anführen werde.
Ich weiß, dass dieser Schritt viele von Euch überraschen und nicht wenige vielleicht auch enttäuschen wird.
Wie Ihr Euch vorstellen könnt, ist mir diese Entscheidung nicht leichtgefallen. Erst vor knapp einem Monat wurde ich für meine 40-jährige Mitgliedschaft in der SPD geehrt. Ich habe damals gesagt, dass sich jeder darauf verlassen könne, dass ich mein Leben lang Sozialdemokrat bleiben würde.
Daran soll sich auch nichts ändern. Aber Sozialdemokraten in der Tradition von Willy Brandt und Helmut Schmidt – und dies war die Zeit, in der ich politisch sozialisiert wurde – sind in der heutigen SPD heimatlos geworden.
Im Godesberger Programm galt noch der Grundsatz: So viel Staat wie nötig, so viel Markt und Wettbewerb wie möglich. Heute überlassen wir die Wirtschaftspolitik den Grünen, die die Industrie mit Verboten gängeln, mit Bürokratie quälen und gleichzeitig mit aberwitzigen Subventionen verwöhnen. Was dabei herauskommt, ist ein kostspieliger bürokratischer Dilettantismus, der Deutschland die rote Laterne bei Innovationen und Wirtschaftswachstum eingehandelt hat. Aus dem bewunderten ›Modell Deutschland‹ der Ära Helmut Schmidt ist ein Sanierungsfall geworden, über den unsere Nachbarn nur noch mitleidig den Kopf schütteln.
In der Sozialpolitik wird zwar kräftig umverteilt, allerdings keineswegs nur zu Gunsten der schmalen und zulasten der breiten Schultern. Soziale Wohltaten, etwa im Rahmen des sogenannten ›Doppel-Wumms‹, werden auf Pump zulasten zukünftiger Generationen ausgeschüttet und ein erheblicher Anteil der Fördermittel findet sich über kurz oder lang in den Dividenden großer Konzerne wieder.
Für eine Steuerreform, die Leistung honoriert und soziale Durchlässigkeit fördert, die nicht an Arbeit und Konsum, sondern an Spekulation und Vermögen anknüpft, und die Kosten des Klimawandels nach dem Verursacherprinzip umlegt, fehlt der Mut und wahrscheinlich auch die Fantasie.
Dass sich die SPD ausgerechnet in Zeiten eines gravierenden Arbeitskräftemangels vom Prinzip des ›Fördern und Fordern‹ ihres ehemaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder verabschiedet, schadet nicht nur Wirtschaft und Wohlstand, sondern stößt vor allem bei denen auf Unverständnis, die trotz harter Arbeit gerade mal so über die Runden kommen.
In der Asyl- und Einwanderungspolitik betreibt die SPD nunmehr seit bald 30 Jahren eine ideologisch getriebene Politik der Realitätsverweigerung. Wenn wir vor dem Hintergrund des demografischen Wandels zur Erhaltung unseres Wohlstandes ein Einwanderungsland werden und gleichzeitig eine solidarische Gesellschaft bleiben wollen, können wir eine ungesteuerte Zuwanderung nicht zulassen. Das individuelle Grundrecht auf Asyl sollte vor diesem Hintergrund abgelöst werden durch ein Einwanderungsrecht, das sich am tatsächlichen Fachkräftebedarf in Deutschland ebenso orientiert wie an der humanitären Tradition unseres Grundgesetzes. Vor allem aber bedarf es wesentlich größerer Anstrengungen und Anforderungen bei der Integration, wenn wir ein Sozialstaat bleiben wollen. Denn Solidarität setzt Zusammenhalt, gemeinsame Erfahrungen und geteilte Werte voraus.
In der Gesellschaftspolitik sind nicht wenige in der SPD von heute dabei, Identitätspolitik an die Stelle einer Politik der Chancengerechtigkeit zu setzen. Wenn nicht mehr die individuelle Leistung, sondern Geschlecht, Herkunft, Hautfarbe oder sexuelle Identität und Orientierung für die Verteilung staatlicher Funktionen und gesellschaftlicher Ressourcen maßgeblich sein soll, ist es nur konsequent, dass die Anstrengungen zurückgehen, Unterschiede von Geburt durch Bildung zu eliminieren. Vor diesem Hintergrund braucht sich niemand über den Niedergang unseres öffentlichen Bildungswesens zu wundern, der uns Jahr für Jahr durch die PISA-Ergebnisse bescheinigt wird.
Solange ich denken kann, war die SPD eine Partei des Friedens und der Versöhnung in internationalen Beziehungen. Willy Brandt erhielt den Friedensnobelpreis für seine Entspannungspolitik, die zum Ende der Blockkonfrontation zwischen Ost und West geführt hat. Gerhard Schröder – gemeinsam mit dem französischen Präsidenten Chirac – bewahrte Deutschland vor der Teilnahme am Irakkrieg des Jahres 2001. Heute erleben wir eine SPD-geführte Bundesregierung, die unser Land ›kriegstüchtig‹ machen möchte, die eine beispiellose Aufrüstung betreibt, die zum Hauptwaffenlieferanten der Ukraine geworden ist, die einem neuen Kalten Krieg das Wort redet und sich an Wirtschaftssanktionen gegen Russland beteiligt, die offenkundig in erster Linie dem eigenen Land Schaden zufügen. Es stimmt: Der russische Präsident führt einen völkerrechtswidrigen Krieg in der Ukraine. Aber Deutschland sollte ihn nicht mit Waffenlieferungen befeuern, sondern dazu beitragen, dass er so schnell wie möglich beendet wird.
Was noch schlimmer ist: Immer mehr Menschen scheinen die Hoffnung aufgegeben zu haben, dass Politik noch irgendetwas Gutes bewirken kann. Sie begeben sich in innere Emigration, begegnen der Politik mit Wut und Sarkasmus und wählen Protest oder gar nicht.
Ich bin überzeugt, das ›BSW – für Vernunft und Gerechtigkeit‹ kann diesen Trend stoppen. Nach meiner Überzeugung werden vor allem diejenigen hier eine politische Heimat finden, die von der SPD enttäuscht sind. Die politische Karriere von Sahra Wagenknecht beobachte ich, seit wir uns vor 30 Jahren zum ersten Mal begegnet sind. In den letzten Wochen haben wir uns wiederholt getroffen. Ich bin überzeugt, sie und die neu gegründete Partei stehen für eine Wirtschaftspolitik mit Sachverstand, Vernunft und Augenmaß und für eine – im besten Sinne – linke Ordnungspolitik, die unternehmerische Freiheit auf der Grundlage von Wettbewerb und fairer Sozialpartnerschaft ermöglicht und wertschätzt. Sie steht für eine Sozialpolitik, die soziale Durchlässigkeit und gesellschaftliche Dynamik befördert und individuelle Leistung honoriert, ohne den sozialen Zusammenhalt aufs Spiel zu setzen. Und sie steht für eine Außen- und Friedenspolitik, die – im deutschen und europäischen Interesse – auf Ausgleich, Entspannung und Stabilität setzt.
Selbstverständlich muss jeder für sich entscheiden, welchen Weg er einschlagen möchte.
Meine Entscheidung ist gefallen und ich würde mich freuen, wenn mir viele von Euch dabei folgen würden.
Herzlich,
Euer Thomas Geisel«