Ich zieh das mal hierhin.
Danke für die ausführliche Beschreibung. Aber bemerkenswert ist doch, dass diese Politik von der Mehrheit der dänischen Bevölkerung offenbar gewünscht wird. Und da frage ich mich, woher diese feindselige Haltung kommt, wurde das mal untersucht?
Eigentlich hätte ich bei den Dänen keine besondere Fremdenfeindlichkeit vermutet, deswegen bin ich etwas überrascht.
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Sorry für die
sehr verspätete Antwort. Aber die besondere Einwanderungs- und
Flüchtlingspolitik in Dänemark ist schon ein schwieriges Thema, und ich bin mir
da selbst nicht klar drüber, was die Gründe für diese Politik sind. Ich
schreibe hier mal ein paar Sachen auf, ohne mir sicher zu sein, ob ich da Richtig
liege:
Ich glaube
eigentlich nicht, dass die dänische Bevölkerung generell fremdenfeindlicher ist
als z.B. die Bevölkerung in Deutschland, UK, Frankreich, der Schweiz und so
weiter. Ich bin mir noch nicht mal sicher, ob die Mehrheit der dänischen
Bevölkerung wirklich die seit fast 20 Jahren sich hier immer mehr verschärfende
Einwanderungs- und Flüchtlingspunkt unterstützt. Kann sein, dass es da eine
knappe Mehrheit gibt, kann aber auch sein, dass es da keine Mehrheit gibt.
Allerdings scheint es klar zu sein, dass es keine Mehrheit in der Bevölkerung
gibt, und erst recht nicht in den politischen Parteien, von links bis rechts,
die die dänische Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik skandalös genug findet,
um diese konsequent zu bekämpfen. Man nimmt es weitgehend hin, dass die
sogenannten bürgerlichen Parteien (Venstre, Konversative, Liberal Alliance) von
2001 bis 2019 sich von der Danske Folkeparti (DF, wie gesagt, so eine Art
dänische AfD) unterstützten haben lassen und für diese Unterstützung haben die
bürgerlichen Parteien der DF all ihre Wünsche hinsichtlich Einwanderungs- und
Flüchtlingsrecht erfüllt.
Da DF Stimmen
enttäuschter Sozialdemokraten aus dem linken Lager abgezogen und dem
bürgerlichen Lager zugeführt haben, sind hierdurch die Sozialdemokraten und die
sie unterstützenden Parteien (Socialistik Folkeparti, Radikale Venstre,
Enhedslisten, Alternativet) von 2001 bis 2019 praktisch nicht mehr
regierungsfähig gewesen (mit Ausnahme der Jahre 2011-2015). Die
Sozialdemokraten sind erst wieder dadurch 2019 regierungsfähig geworden, dass
sie versprochen haben, die Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik von DF
weiterzuführen und hierdurch wieder Stimmen der DF Wählerschaft in das linke
Lager zurückholen konnten und somit wieder eine knappe Mehrheit für das linke
Lager erzielen konnten. Und auch diese Wendung der Sozialdemokraten nimmt die
Mehrheit der dänischen Bevölkerung hin, und nehmen die anderen Parteien des
linken Lagers hin. Die Sozialdemokraten spielen das ganz gut. Sie haben bei der
Wahl 2019 nur 25,9% der Stimmen geholt und stellen mit diesem Viertel der
Wählerstimmen eine rein sozialdemokratische Regierung. Ist also eine
Minderheitsregierung (ganz typisch hier im Norden, in Deutschland undenkbar),
die bei so Sachen wie Haushaltsgesetzgebung oder Klimagesetzgebung von den zwei
linken Stützparteien (Socialistik Folkeparti, Enhedslisten) und der
sozialliberalen Stützpartei (Radikale Venstre) die Stimmen bekommen. Und wenn
es um Gesetzgebung bei der Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik geht, dann arbeiten
die Sozialdemokraten auch gerne mit DF und den bürgerlichen Parteien zusammen.
Und die Stützparteien nehmen das hin, die Alternative wäre den Sozialdemokraten
die Unterstützung zu entziehen, es auf Neuwahlen ankommen zu lassen, die dann
möglicherweise wieder eine Regierung des bürgerlichen Lagers mit DF als
Stützpartei ergeben würde. Auch keine tolle Alternative.
Und ich nehme
diese Politik auch hin. Ich finde die Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik
hier in Dänemark furchtbar. Aber ich finde sie offensichtlich nicht furchtbar genug,
um meinen Job hier aufzukündigen und das Land zu verlassen. Könnte ich ja
machen, tue ich aber nicht. Mir sind andere Dinge offensichtlich wichtiger als
eine humane Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik. Ich glaube, so geht es
vielen hier. Bin ich nicht stolz drauf.
Womit ich jetzt
nicht sagen will, dass es hier keine oder wenig Fremdenfeindlichkeit gibt. Die
gibt es, mehr als genug, aber, wie gesagt, nicht unbedingt mehr als in
Deutschland oder anderen vergleichbaren Ländern. DF hat bei den Wahlen zwischen
2001 und 2011 konstant 12% bis 13% geholt. Also sehr gut vergleichbar mit dem
AfD Ergebnis von 2017. 2015 gab es dann den Ausreisser nach oben, mit 21,1%,
2019 dann den Absturz auf 8,7%.
Der grosse
Unterschied zwischen DF und AfD ist, dass die AfD in Deutschland weitgehend vom
etablierten System ausgegrenzt wird. Keine der etablierten Parteien will mit
der AfD irgendwie zusammenarbeiten. Und Fernsehjournalisten gehen mit
Politikern der AfD wesentlich ruppiger und aggressiver um, als mit Politikern
anderer Parteien. So ist zumindest mein Eindruck.
Das ist hier anders:
DF ist eine anerkannte Partei, es gibt keine Ausgrenzung, die anderen Parteien
arbeiten mit DF zusammen und Fernsehjournalisten behandeln DF nicht kritischer
oder unkritischer als andere Parteien.
Wie kommt das?
Ich glaube, ein Grund ist, das hier in Dänemark doch weit verbreitete
Zusammengehörigkeitsgefühl. Fællesskab (Gemeinschaft) ist hier ein ganz
zentraler Begriff. Das wir hier als Dänen trotz aller unterschiedlichen
Meinungen und unterschiedlichen sozialen Lange zusammenstehen und Teil einer
grossen (und irgendwie klassenlosen) Gemeinschaft sind und, wenn es darauf
ankommt, alle an einem Strang ziehen, das ist hier schon ein weit verbreitetes
Narrativ. Und dazu passt, die hier weitverbreitete Konsens- und Kompromisskultur,
die Kultur des Aushandels, und auch die Kultur der Minderheitsregierungen, wo
man sich immer wieder im Parlament die Mehrheiten bei verschiedenen Parteien
zusammensucht. Es wird relativ wenig innerhalb der dänischen Gesellschaft
ausgegrenzt, auch nicht solche Erscheinungen wie DF, und wenn dann die
Konstellation im Parlament günstig ist, dann kann dann eine Partei wie DF
immens viel erreichen.
Dieses hohe Mass
an fælleskab, an Gemeinschaftssinn, macht das Leben hier zum Teil ganz
angenehm. Es gibt ein hohes Mass an Vertrauen in die Politik und die
öffentliche Verwaltung, was viele Dinge leichter macht, zum Beispiel die Bekämpfung
von COVID-19. Da gibt es auch hier kontroverse Diskussionen, aber die werden
bei einer viel niedrigeren Temperatur geführt als zum Beispiel in Deutschland.
Und sowohl die Einführung der COVID-19 Bekämpfungsmassnahmen als auch die nun
erfolge Aufhebung der Massnahmen wurden im Parlament im Konsens vereinbart, wo 9
der 10 vertretenen Parteien zusammengestimmt haben, von DF bis Enhedslisten
(nur Nye Borgerlige, eine neue und ziemlich kleine Partei (2,4% bei der letzten
Wahl), die einiges mit DF gemeinsam hat, wollte nicht an den Absprachen
teilnehmen). Und die Leute haben sich hier auch sehr gewissenhaft an die
Massnahmen gehalten. Und haben sie dann, im Einklang mit den Beschlüssen der
Regierung, zu Beginn der EM dann auf die Seite gelegt.
Das ist doch eine
sehr andere Gesellschaft als wie ich sie zum Beispiel aus den USA kenne, wo ich
auch ein paar Jahre gelebt habe, und wo man mehr den Eindruck hat, dass, trotz
aller Beschwörungen des Patriotismus und der Fähnchenschwenkerei, grosse Teile
der Gesellschaft im Krieg miteinander liegen. Das ist hier ganz anders.
Dieser
Gemeinschaftssinn, dieses fællesskab, umfasst aber nur die Dänen. Nicht die
Ausländer. Die stehen da irgendwie außerhalb der fælleskab. Und manchmal kann
man schon den üblen Gedanken haben, dass der Schritt von Gemeinschaft zu
Volksgemeinschaft kein so grosser Schritt ist.
Ich könnte jetzt
noch mehr schreiben, zum Beispiel, dass für hochentwickelte Sozialstaaten, wie
hier im Norden, Einwanderung tatsächlich eine riesige Herausforderung
darstellt, mehr, so denke ich, als in wirtschaftsliberalen Staaten wie USA und
UK. Und dass vor diesem Hintergrund die Politik der dänischen Sozialdemokraten
zwar nicht sympathischer wird, aber doch eine gewisse Logik hat. Aber das ist
noch mal ein anderes Thema.