Ich habe meine beiden Beiträge, auf die Du myfreexp Bezug genommen hast, noch einmal durchgelesen, und möchte hier die Dinge noch einmal präzisieren:
Es ging mir nur um den Begriff „Gutmensch“, nicht um das Thema „political correctness“ im allgemeinen oder die hier genannten Themen „Genderism, Frauenquote, Fleischverbot, Vegan für alle, Alkoholverbot, Drogenverbot“. Das sind mir zu viele verschiedene Dinge, zu denen ich unterschiedliche oder auch gar keine Meinungen habe. Das Thema „Gutmensch“ fand ich aber interessant, weil sich die Bedeutung so sehr gewandelt hat. In den 1980er Jahren war „Gutmensch“ ein denunziatorischer Begriff innerhalb einer Diskussion in der Linken, ein Begriff, den der Teil der Linken, der eine materialistische Betrachtungsweise der Geschichte hatte und von der Frankfurter Schule (Kritische Theorie) beziehungsweise Neuen Frankfurter Schule (Titanic) her kam, benutzte, um einen anderen Teil, der eher vom evangelischen Kirchentag, der Innerlichkeit, der eigenen Betroffenheit und der Spiritualität her kam, zu kritisieren. Zum Teil geschah dies sicherlich aus reiner Lust am Diffamieren und Beleidigen, etwas, was man vielleicht in der Tat mit „Arschlochverhalten“ im Sinne von rotation2013 bezeichnen kann. Aber es war nicht nur Diffamieren und Beleidigen, es war auch Ideologiekritik, also das Sichtbarmachen eines notwendig falschen Bewusstseins, es war Aufklärung. Das klingt jetzt ziemlich hochgestochen, für manchen vielleicht sogar albern, aber mir haben damals die Texte und Polemiken von Eckard Henscheid, Wolfgang Pohrt und anderen tatsächlich dabei geholfen, ein kleines bisschen weniger dumm zu werden als ich es ohne diese Texte und Polemiken wahrscheinlich geworden wäre.
Aber das sind alles Geschichten aus längst vergangenen Zeiten, Geschichten von Auseinandersetzungen, die vorbei sind. Und damit hat sich auch der Kampfbegriff „Gutmensch“ erledigt, diejenigen, die ich früher damit hätte treffen wollen, sind heute nicht mehr da, jedenfalls nicht in nennenswerter Zahl. Und in den linken und linksradikalen Publikationen, die ich so lese, habe ich schon lange nicht mehr den Begriff „Gutmensch“ gesehen.
Stattdessen sehe ich den Begriff „Gutmensch“ in rechten und rechtsradikalen Publikationen zu Hauf, meistens zur Herabwürdigung von Menschen, die sich in der Flüchtlingshilfe engagieren, die nicht ständig „Deutschland zu Erst“ rufen und die das nationale Kollektiv nicht als das Höchste aller Güter ansehen. Ich nehme es in der Tat so wahr, dass dies im Jahr 2020 die vorrangige (vornehmer ausgedrückt: hegemoniale) Bedeutung des Begriffs „Gutmensch“ ist (natürlich kann meine Wahrnehmung auch trügen, ich bin allerdings recht sicher, dass dies hier nicht der Fall ist). Der Begriff des „Gutmenschen“ gehört also demnach heute tatsächlich dem Ressentiment geladenen Gesindel, das bei PEGIDA herumläuft und die AfD (oder schlimmeres) wählt. Und ich missgönne das denen überhaupt nicht, sie mögen diesen Begriff gerne haben, da ich, wie im vorangegangen Absatz dargelegt, eh keine Verwendung mehr für ihn habe. Und sie dürfen mich auch gerne als „Gutmenschen“ beschimpfen, wobei ich persönlich eher den altmodischen Begriff „Vaterlandsverräter“ bevorzugen würde. Aber man kann es sich nicht aussuchen.
Du kannst natürlich myfreexp insistieren, dass der Begriff „Gutmensch“ in den 1980er Jahren in einem ganz anderen Zusammenhang gebraucht wurde und dass man auch heute mit „Gutmensch“ etwas ganz Anderes meinen kann als das, was das Ressentiment geladene Gesindel gemeinhin meint. Und dass man den Begriff auch heute noch in ideologiekritischer Absicht benutzen kann, zum Beispiel zur Kritik der als im Englischen als „woke“ bezeichneten Geisteshaltung. Oder als Kritik an Linken oder Liberalen, die sich zu viel für Identität (hinsichtlich Geschlecht, sexueller Orientierung, Ethnizität) und zu wenig für soziale Klassengegensätze und Eigentumsverhältnisse interessieren. Ich würde jedoch vorschlagen, diese Diskussionen ohne Rekurs auf den Begriff „Gutmensch“ zu führen, weil der Begriff, wie oben dargelegt, meines Erachtens nach heutzutage anders verstanden wird, und es mühsam ist, in den Diskussionen immer wieder Missverständnisse auszuräumen. Aber das kann man natürlich auch anders sehen.