Die anfänglichen Erfahrungen, die ich mit meiner verblödeten Verwandtschaft dazu machen musste, entsprachen auch dem üblichen "stell' dich nicht so an, in deinem Alter"-Blabla. Es war fürchterlich. Bis ich mich von dem Haufen schlicht befreit habe. Es besteht kein Kontakt mehr zu denen, und ich vermisse NICHTS. Im Gegenteil, es war eine Befreiung sondergleichen. Das mit dem "sich nicht anstellen" hat dann auch nicht so gut geklappt, wie meine Mischpoke es gerne gesehen hätte.
Aber auch das ist Deutschland: Wenn man depressiv erkrankt ist, muß man schon ein fußballspielender Jungmillionär und Promi sein, damit die Sache "Anerkennung" findet. Wobei man über die Ernsthaftigkeit dieser Anerkennung ruhig zweifeln darf, denn wenn ein Fußballstadion zur Karikatur einer Trauerfeier und zum Podium für das kollektive Heulen wird, ist das ein Event. Mehr leider nicht.
Als Normalo erlebt man überwiegend Spott und knallharte Diskriminierung, und auch seit Enkes Tod hat sich nichts geändert. Im Gegenteil: Die Krankheit "Depression" wird plötzlich zum Lifestyle-Wehwehchen umgelabelt und als "Burnout" bezeichnet. Nur dann - wenn man sich in diesem System die Psyche kaputtgeschuftet hat und nicht dreisterweise "einfach so" erkrankt - "darf" man auch krank werden. Und das bitteschön auch nur dann, wenn ein paar Wochen Auszeit und Urlaub alles wieder richten und man ganz schnell wieder servil im Hamsterrad rotiert.
Wenn es chronisch wird, fällt man hingegen schnell in Ungnade. Sei es im Freundeskreis oder im Gespräch mit Ahnungslosen. Wer heutzutage immer noch glaubt, Depressionen seien mit etwas Sonnenlicht, Ballermann und einer "positiven Einstellung" und vielleicht noch den dazugehörigen Schundschinken irgendwelcher selbsternannten Lebensführungs-Coaches zu heilen, dem gönnt man von Herzen die Krankheit am eigenen Leib. Dann kann man sich von Trotteln wie Robert Betz und Byron Katie und deren Fans die salbungsvollen Binsen anhören und hautnah erfahren, wo beim 0815-Simpel eine Krankheit eingeordnet wird, die genau so oft tödlich endet wie eine Krebserkrankung.
Meine Erfahrung ist: Schleunigst eine Therapie beginnen, und zwar eine Gesprächstherapie mit eventueller medikamentöser Begleitung. Und ebenfalls extrem wichtig: Raus aus dem krankmachenden Umfeld. Das schließt ausdrücklich den Arbeitsplatz mit ein, aber auch eine radikale Veränderung des Umfeldes, falls diese einem mit Unverständnis begegnet und sich auch nicht informieren lassen will.
Natürlich ist dann die Erwerbsbiographie, also quasi der Heilige Gral eines eventuellen Bewerbungsschreibens, im Eimer, aber eine ungebrochene Erwerbsbiographie nützt einem nicht viel, wenn man sich suizidiert. Das gehört auch ganz dringend zur Behandlung von Depressionen: Man muß sich von gesellschaftlichen Wertvorstellungen strikt und radikal trennen. Die Selbstdefinition und damit die eigene Wertschätzung darf nicht mehr über Leistung, Arbeitsplatz und Besitzstand erfolgen. Das sind künstliche und inhaltslose Unwerte, die in dieser zutiefst kranken Gesellschaft Depressionen erst schaffen. Man kann sich in diesem Zuge sogar ernsthaft fragen, ob es nicht gesund ist, auf die Umstände mit Krankheit zu reagieren.